Mittwoch, 4. Mai 2011

Real life math II: Referendum in UK über eine Wahlrechtsreform

In Großbritannien findet heute am 5. Mai 2011 der erst zweite Volksentscheid in der Geschichte des Königreichs statt. Als kontinentaler Leser ist man zunächst etwas verwirrt über kryptische Kürzel wie FPTP and AV. Es geht um eine Reform des strikten Mehrheitswahlrechts. Wahlrechtsreform sind in allen Ländern eine Seltenheit. In der Regel meint die regierende Seite bei der letzten Wahl vom aktuellen Wahlrecht profitiert zu haben und hat wenig Interesse das bei der nächsten Wahl zu ändern. Die Opposition, bis eben noch ein Kritiker des Wahlrechts stellt eine Reform nach einem Sieg erst mal zurück, weil man jetzt der Gewinner ist. Damit können das Wahlrecht so schlecht doch nicht sein.

FPTP (First-past-the-post) ist das Akronym für das klassische Mehrheitswahlrecht. Derjenige, der in einem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt, der gewinnt den Sitz. Mit dieser direkten Wahl soll die Verankerung eines Abgeordneten an seinen Wahlkreis sichergestellt werden. Nachteilig in diesem System ist, daß der Gewinner oft nur von weniger als Hälfte der abgegeben Stimmern gewählt wurde und er damit gar nicht die Mehrheit der Wähler in diesem Wahlkreis repräsentiert. Dies tritt in der Regel bereits ein, wenn mehr als zwei relevante Kandidaten zur Wahl stehen. Manche Kandidaten werden von vornherein als chancenlos eingestuft. Damit die Stimme nicht "verlorengeht", wähler Bürger oft "taktisch" einen anderen Kandidaten als den von ihnen bevorzugten. Zusätzlich führt das System zu einer sehr starken Überrepräsentation der siegreichen Partei in der Stimmenverteilung im Parlament.

Um diese oft als ungerecht empfundenen Effekte abzumildern steht im Volksentscheid das Wahlverfahren AV (Alternative vote) zur Entscheidung. Bei der Alternative Vote handelt es ebenfalls um ein Mehrheitswahlrecht. Jeder Wähler kann eine Rangliste von Kandidaten abgeben. Die Wahl ist endet, wenn ein Bewerber die absolute Mehrheit also mehr als 50% der Stimmen erreicht hat. Ist das nicht in der ersten Runde sofort der Fall, dann wird der Kandidat mit den wenigsten Stimmen gestrichen. Auf jedem Wahlzettel zählt dann die am höchsten gewichtete Stimme von allen Kandidaten, die noch im Rennen sind. Das Verfahren wird so oft wiederholt bis einer der Kandidaten die absolute Mehrheit besitzt. Klingt kompliziert (aber das ist D'Hondt auch, von Kumulieren und Panaschieren bei deutschen Kommunalwahlren gar nicht zu reden) ist aber ein relative einfaches Rundensystem (wie bei der Wahl der Olympiastädte) bei dem aber alle Stimmen auf einmal abgegeben werden. AV wird beispielsweise für die Wahl des Repräsentantenhauses in Australien verwendet.

Eine sehr gut lesbare und tiefschürfende Analyse beider Verfahren findet sich im dem Blogartikel Is AV better than FPTP von Timothy Gowers. Der Mathematik-Professor am Trinity-College in Cambridge ist immerhin ein Fields-Medallienträger von 1998.

PS: Bei dem Referendum ist das Wahlsystem glücklicherweise einfach. Es kann nur mit YES für AV) oder NO (gegen AV) gestimmt werden. Egal wie das Referendum ausgeht. Am Wahlrecht hat es dann nicht gelegen.